Achtsamkeit ist nicht genug...

man muss auch mit den Folgen umgehen können

(Erstveröffentlichung in der Zeitschrift „Connection spirit“ Juli/August 2013)

Achtsamkeit ist in aller Munde. Der Begriff ziert Buchtitel und Vortragsthemen, kehrt in unseren Alltagsjargon ein und wird inzwischen sogar von schulmedizinischen Einrichtungen und Krankenkassen als wertvoll akzeptiert.

Achtsame Geisteshaltungen und entsprechendes Handeln sind auch ein natürlicher Ausdruck von spirituellem Erwachen. Oder sie können – andersherum betrachtet - ein Zugang zu innerer Befreiung sein.

Achtsamkeit ist jedoch noch kein Allheilmittel, denn eine liebevoll alles wahrnehmende Achtsamkeit hebt die Verdrängungsschranke auf – und der Umgang mit dem, was dann auftaucht, braucht Verständnis für die Schattenanteile des Bewusstseins.

Stell‘ dir vor, du betrachtest eine Blume.

»Diese Sorte ist ja eigentlich nicht so hübsch«, lässt eine innere Stimme ungefragt dich wissen. Oder »Ach, die erinnert mich an...«. Oder »Hmm, wohl nicht mehr ganz frisch«. Dann erlaubt dir dein Geist einen zweiten Blick: »Na ja, die Farbe ist schön«. »Eigentlich hat jedes Blütenblatt eine faszinierende Form«. »Die vertrockneten Blätter sehen bizarr aus«.

Vielleicht geschieht dann auch noch eine weitere Öffnung, und du schaust ohne zu denken. Alle Benennungen und Bewertungen fallen weg. Du schaust nur und genießt das Spiel von Farben, Schattierungen, Spiegelungen. Dein Blick ist gebannt von der unerwarteten Schönheit, die durch jedes Detail der Blume und durch ihr Ganzes strahlt. Jetzt kannst du die Augen nicht mehr abwenden. Fast fühlst du dich zärtlich zu der Blume hingezogen, möchtest sie vielleicht berühren. Dankbarkeit durchströmt dich dafür, dass sie dich mit ihrer Schönheit derart beschenkt.

Achtsamkeit wird populär

Was geschieht hier? Buddhisten und Therapeuten würden vielleicht sagen, dass wir in diesen wenigen Momenten eine heilende Qualität unseres Geistes entdeckt haben: die Achtsamkeit.

Dieser Begriff ist mittlerweile sehr populär. Es gibt Achtsamkeitsseminare, Achtsamkeitstrainings, achtsamkeitsbasierte Stressbewältigungsprogramme, Achtsamkeitsübungen für Kinder, Schüler, Lehrer, Eltern, Achtsamkeitsprogramme zum Schlankwerden und zur Raucherentwöhnung.

Die buddhistischen Traditionen haben seit mehr als zwei Jahrtausenden die Bedeutung der Achtsamkeit und einer meditativen Grundhaltung zur Befreiung vom Leiden betont. Viele der heutigen Achtsamkeits-Praktiken gehen zurück auf den Einfluss buddhistischer Lehren auf unsere Kultur. Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) bezeichnete sich selbst als »ersten europäischen Buddhisten«. Richard Wagner entwarf eine Oper über Buddha. Hermann Hesse schrieb mit »Siddharta« einen Buddha-Roman. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts flossen buddhistische Lehren in die Therapie und Tiefenpsychologie ein, vor allem durch die Schriften C. G. Jungs und Erich Fromms und durch die Zen-Praxis von Karlfried Graf Dürckheim und Hugo Enomiya-Lassalle.

Beginnend mit den siebziger Jahren fand die Achtsamkeitslehre von Thich Nhat Hanh Verbreitung. Dazu kam wenig später die Vipassana-Tradition mit ihren westlichen Vertretern wie Jack Kornfield und Christopher Titmuss. In den achtziger Jahren wurde der Dalai Lama weit über die buddhistische Szene hinaus zum Weltstar und weltweit beliebtesten Weisen und bekam den Friedensnobelpreis. Meditation und Achtsamkeit sind seither zu selbstverständlichen Begriffen in unserem Lebensverständnis geworden - bis hinein in unser Gesundheitssystem.

Seelenfrieden

Doch was ist eigentlich ein achtsamer Bewusstseinszustand?

Das wird deutlicher, wenn wir das Gegenteil betrachten: Das ist das, was die Buddhisten den »Affengeist« nennen. Weitgehend unbewusst springt der Verstand von einem Gedanken zum nächsten und gleich wieder weiter, so wie ein Affe sich durch den Urwald hangelt und schon nach der nächsten Liane greift, wenn er die erste noch nicht losgelassen hat. Affe und Geist kommen nicht zur Ruhe, sondern sind immer mit dem nächsten Greifen beschäftigt, gehetzt von Wünschen und Sorgen und von dem unbewussten Drang, immer anderswohin zu kommen als wo man gerade ist.

Ganz anders die achtsame Geisteshaltung. Hier bleibt die Aufmerksamkeit bei der unmittelbaren Erfahrung, also im gegenwärtigen Augenblick. Empfindungen, Gefühle und Gedanken werden auf eine offene und gleichmütige Weise erlebt. Der sonst wild wertende Teil unseres Denkens, der nahezu zwanghaft alle Erfahrungen in gut und schlecht, wertvoll oder schädlich, erstrebenswert oder zu vermeiden einordnet, kommt zur Ruhe. Ein altes Wort beschreibt das gut: Seelenfrieden.

Vipassana

Ich selbst machte erste Erfahrungen mit Zuständen heilsamer Achtsamkeit auf einem vierwöchigen Stille-Retreat Anfang der 90er Jahre im Süden Englands. Die Vipassana-Tradition zeigt einfache Meditationstechniken, die dem Affengeist die Energie entziehen. Dazu gehört die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf sogenannte Meditations-Anker. Das kann das Erspüren der Atembewegungen im Bauchraum sein oder die winzigen Schwankungen der Wirbelsäule während des Sitzens. Bei der klassischen Gehmeditation dienen die Empfindungen in den Fußsohlen bei jedem einzelnen Schritt als Anker. Statt sich in gedanklichen Abschweifungen zu verirren, wird die Aufmerksamkeit also auf eine einzige, körperlich spürbare Wahrnehmung gerichtet.

Mich fünfmal am Tag während der Sitz- und Gehmeditationen für jeweils 45 Minuten auf den Anker auszurichten, das war für mich zunächst sehr anstrengend. Meine Gedanken schweiften von Liane zu Liane. Immer wieder musste ich den Geist zurückholen auf den Meditationsanker. Im Lauf der ersten Tage zeigten sich Früchte dieser Disziplin. Gerade in den Zeiten zwischen den formellen Meditationen genoss ich eine erhöhte Achtsamkeit für alltägliche Situationen.

Ankommen im Hier&Jetzt

So zum Beispiel beim morgendlichen Duschen. Gewöhnlich war ich morgens auch während des Duschens mit den Gedanken an die kommende Tagesaktivität beschäftigt gewesen. Während ich mich eilig wusch, lief der Denkapparat schon auf Hochtouren: Was muss ich heute tun, was ist einzukaufen, wen treffe ich, was sage ich dann, was könnte ich Schönes machen, was könnte Schlimmes passieren?

Jetzt, da das Grübeln und Planen immer mehr zur Ruhe kam, erlebte ich das morgendliche Duschen unmittelbar: Ich nahm die Temperatur des Wassers bewusst wahr, genoss die Massage des Strahls auf meiner Haut und spürte die entspannende Wirkung. Die kalte Dusche zum Abschluss war so erfrischend wie das Bad in einem Jungbrunnen.

Auch in andere Bereiche floss erhöhte Achtsamkeit. Schon beim Heben einer Teetasse spürte ich die Spannung und Entspannung der Muskulatur in Schultern, Armen und Händen. Ich spürte die Wärme der Tasse an den Lippen und nahm den Duft des Tees wahr. Den warmen Strom im Mundraum und in der Kehle. Duft und Geschmack breiteten sich in Mundhöhle und Rachenraum aus und klangen dann allmählich wieder ab. Alle diese feinen Empfindungen wurden nicht mehr vom Gedankenlärm übertönt. Ich nahm sie rein und gegenwärtig wahr.

Auch mein Verhalten wurde immer mehr von Achtsamkeit durchdrungen. Bislang hatte ich meine Hausschuhe achtlos vor dem Meditationsraum abgestellt und die Tür hinter mir grob ins Schloss fallen lassen. Jetzt machte es mir Freude, die Schuhe parallel nebeneinander auszurichten und die Tür so achtsam zu öffnen und zu schließen, dass kaum ein Laut zu hören war. Wie wäre es, wenn eine solche Qualität in alle Lebensbereiche fließen würde? Wenn wir achtsam essen, achtsam gehen, achtsam abwaschen, achtsam Emails schreiben, achtsam zuhören, reden und schweigen würden?

Gewahrsein der inneren Unruhe

Sich tiefer auf Meditation und Achtsamkeit einzulassen, ist nicht nur eine Sache sanften Genusses. Es gibt auch unangenehme und zuweilen schmerzhafte Herausforderungen. Eine besteht darin, dass wir uns zunächst der Unruhe unseres Denkens mehr als zuvor bewusst werden. Bevor wir erste Erfahrungen mit meditativen Zuständen machen, reden der innere Kommentator und der innere Richter mit, ohne dass wir uns darüber klar sind.

»Die meisten Menschen leben allein in der Welt der mentalen Namensgebungen und nehmen die Wirklichkeit nie unmittelbar wahr«, erklärt Eli Jaxon Bear. Zu erkennen wie oft und wie massiv wir von verurteilenden Gedanken beherrscht werden, ist erschreckend und zeitweise äußerst frustrierend. Auslassen können wir diesen Schritt nicht. Erst wenn wir uns der überaktiven Gedankenmaschine bewusst werden, können wir tiefer schauen. Dann bekommen wir auch jene Momente mit, in denen der Kommentator eine Pause macht oder ganz schweigt. Dann erkennen wir, dass wir nicht unsere Gedanken sind, sondern die Stille, aus der das Denken auftaucht und in die es wieder versinkt.

Aufhebung der Verdrängungsschranke

Ken Wilbers Integrales Modell erklärt ein Phänomen, das auch fortgeschrittene Meditierende vor Probleme stellt. Wilber nennt es »Aufhebung der Verdrängungsschranke«. Nach seinem Modell entfaltet sich die menschliche Psyche in drei Entwicklungsphasen. Die prä-rationale Phase entspricht einem kindlichen Stadi-um. In dieser Phase knüpfen wir unser Selbstempfinden an ein Körper- und Gefühls-Ich. Hier dominiert das Erleben unkontrollierter Impulse und Emotionen. An der Supermarktkasse wirft sich ein Dreijähriger kreischend auf den Boden, wenn ihm seine Mutter keine Süßigkeiten kaufen will.
Mit der rationalen Phase entwickeln wir ein mentales Ich. Wir ordnen unsere Welt durch die Struktur der Vernunft. Dazu gehört die Fähigkeit, unerwünschte Gefühle und Impulse durch unser Denken zu kontrollieren. Wir können Bedürfnisse aufschieben und schmerzliche Erfahrungen durch gedankliches Eingreifen bewältigen. Zu den sogenannten Abwehrmechanismen zählen Verdrängung und Projektion. Das Kleinkind könnte, um sich seiner Mutter anzupassen, seinen Wunsch nach Süßigkeiten ebenso verdrängen wie die Wut auf die Mutter. Es könnte aber auch seinen Zorn auf seine Mutter projizieren und ihr eigentlich wohlmeinendes Nein als ungerechte Wut empfinden.

Vom Rationalen zum Transrationalen

Abwehrprozesse erzeugen in der Psyche das, was in der Psychologie »Schatten« genannt wird. Unser Denken hat zu schmerzhaften Empfindungen irgendwann gesagt: »Das ist unerträglich«, »Das halte ich nicht aus«, »Das will ich auf keinen Fall fühlen«. Dazu zählen unerwünschte Teile der Persönlichkeit, Schicksalsschläge, traumatische Erlebnisse und auch die existentiellen Gefühle, die an der Basis jedes Egos schlummern: Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Todesangst, Aggressivität, sexuelles Begehren.

Was hat das mit Meditation und Achtsamkeit zu tun? Wenn wir uns tiefer auf Meditation einlassen, ist die unvermeidliche Folge, dass wir uns vom rationalen zum transrationalen Bereich hin entwickeln. Wir lassen die Identifikation mit einem mentalen Ich hinter uns und entdecken unseren Wesenkern. Damit lösen wir uns wieder vom denkenden Geist, und das kontrollierende Denken gibt sich der Intelligenz der Stille hin. Es lässt gewohnte Denkmuster und schnelles Urteilen los.

Dieses Zur-Ruhe-Kommen entzieht allerdings auch den Abwehrmechanismen des Verstandes die Energie. Diese Energie hatte bislang die Schattenanteile unsere Psyche im Unbewussten gehalten. Jetzt funktioniert das nicht mehr. Der Dreck wurde bisher fleißig unter den Teppich gekehrt. Nun wird der Teppich gelüftet, und der Dreck kommt ans Licht.

Dem Gespenst in die Augen sehen

Eigentlich ist das eine gute Nachricht, denn die dunklen Anteile bergen auch ein Geschenk. Voraussetzung ist allerdings, dass die Achtsamkeit sich auf alle unangenehmen und schmerzhaften Aspekte der Innenwelt ausdehnt. Können wir auch damit achtsam sein, dass wir eigene, bisher verdrängte Anteile nach außen projizieren? Können wir Angst oder Wut ebenso erfahren wie eine heiße oder kalte Dusche? Können wir es lernen, emotionalen Schmerz so langsam und bedächtig zu genießen wie eine Tasse Tee? Können wir die lichten und heiteren ebenso wie die dunklen und schmerzenden Erfahrungen in einer offenen Geisthaltung zulassen ohne sie zu bewerten?

Beleuchten wir die Schattenanteile auf diese Weise, entdecken wir etwas Erstaunliches: Wir brauchen nicht vor ihnen davonzulaufen. Wir dürfen uns erlauben, die anstrengenden Abwehrmechanismen ruhen zu lassen. Wagen wir es, dem Gespenst in die Augen zu schauen, stellt es sich als Spuk heraus und löst sich auf. Der zugrunde liegende Frieden wird wieder spürbar.

So erweist sich Achtsamkeit als heilender Balsam für alle Schichten unseres Leidens. Genau das beschreibt Thich Nhat Hanh: »Wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.«

Sei, der du bist!

Es gibt in Bezug auf die Praxis der Achtsamkeit ein paar Missverständnisse, die in herkömmlichen therapeutischen Betrachtungen zuweilen übersehen werden. Eines davon besteht darin, dass Achtsamkeit als Tun eines Ichs beschrieben wird. Eine solche Perspektive mag uns klar machen, dass die Kraft der Befreiung in uns selbst liegt. »Das größte Geschenk der Achtsamkeitspraxis«, meint die Autorin Doris Kirsch, »besteht darin, dass sie mir in jedem Moment ermöglicht, mein Leben zu ändern, indem ich meine Geisteshaltung ändere.«
Doch die Vorstellung, Achtsamkeit müsse durch konsequentes Üben kultiviert werden, erzeugt Stress. Häufig führt sie bei Meditierenden zu dem Anspruch, einen achtsamen Bewusstseinszustand möglichst lange zu halten – am besten für immer. Gelingt das nicht, glaubt der Meditierende, etwas falsch zu machen oder nicht gut genug zu sein.

Jon Kabat-Zinn, der Begründer der Methode der »Mindfulness-Based Stress Reduction« (MBSR) versucht, solchen Missverständnissen vorzubeugen: »Bei der Meditation geht es nie um den Versuch, irgendwo hinzugelangen. Es geht darum, dass wir uns selbst erlauben, genau dort zu sein, wo wir sind, und genau so zu sein, wie wir sind, und desgleichen der Welt zu erlauben, genau so zu sein, wie sie in diesem Augenblick ist.«

Selbst-Erforschung

Die Selbsterforschung des Ich-Konzepts, auf die Ramana Maharshi und die Advaita-Tradition hinweisen, offenbart eine noch tiefere Betrachtungsweise. Sie hinterfragt unsere Vorstellung, bei der Meditation gebe es ein meditierendes Ich. »Wer oder was ist es, das Achtsamkeit aufbringt?«, fragte Ramana. Und: »Wer oder was meditiert?« Er lud dazu ein, die Aufmerksamkeit umzuwenden. Weg von der – womöglich achtsamen – Betrachtung der Erfahrungen, hin zur Quelle, von der aus Aufmerksamkeit und Achtsamkeit aufsteigen.

Was in dieser Selbst-Erforschung zu finden ist, wird jeder in seiner direkten Erfahrung prüfen. Ramana umschrieb es so, dass in der Erforschung der Quelle entdeckt wird, dass es kein getrenntes und mit einem Willen ausgestattetes Ich gibt. Stattdessen eröffnet sich in dieser Erforschung eine befreiende Leere. Aus dieser Leere wird Achtsamkeit nicht als etwas erlebt, das getan oder geübt werden könnte. Vielmehr erstrahlt sie als eine natürliche Qualität des Gewahrseins, das wir sind.

Müheloses, meditatives Gewahrsein

Ramana nannte es Sahaja Samadhi – müheloses, meditatives Gewahrsein. Diese Natürlichkeit geht über den konzentrativen Aspekt von Meditation hinaus. Es handelt sich um eine anstrengungslose Meta-Achtsamkeit. In ihr darf jede Erfahrung und jeder Geisteszustand auftauchen – auch Unachtsamkeit und Zerstreutheit –, ohne dass wir uns damit identifizieren oder dagegen ankämpfen. Auf dieser Ebene ist Achtsamkeit nur ein anderes Wort für das stille Gewahrsein unserer ureigensten Natur.

Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hatte 1969 im Ashram von Ramana Maharshi an dessen Grabstätte ein spirituelles Erlebnis, das ihm solche eine Tiefe offenbarte. »Meditation«, sagte er, »macht aus uns niemand anderen, sie macht aus uns den, der wir immer gewesen sind.«