
Spirituelle Krankheiten
erschienen in der Zeitschrift „Connection“ im Januar 2013 (hier veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung des Herausgebers Wolf Schneider- hier geht es zur Website der Connection)
Auf jeder Stufe des spirituellen Weges gibt es Fallen, Sackgassen, Irrwege – und die Möglichkeit, sie für die weitere Entwicklung zu nutzen
Immer mehr Menschen wenden sich auf ihrer Suche nach Glück von für sie unbefriedigenden, profanen Wegen ab und der Spiritualität zu. Meist schleicht sich dann die Hoffnung, oft sogar feste Erwartung ein, dass Spiritualität als goldener, alles Irdische heilender Weg den demütigen Sucher und disziplinierten Meditierer alsbald und dauerhaft mit kosmischer Glückseligkeit belohnt. Es hat jedoch auch der spirituelle Weg seine Tücken in sich. Wer vorab die Landkarte studiert, ist jedenfalls besser gewappnet, wenn der Weg an manchen Stellen nicht nur ungewöhnlich steil wird, sondern sogar an gefährlichen Abgründen entlang führt
Spirituelle Krankheiten, was soll das denn sein? Wir hatten doch gehofft, dass die Beschäftigung mit Spiritualität uns endlich vom Leiden befreit, dass wir das Elend unseres Ichs hinter uns lassen, unser Ego transzendieren und die Freiheit dahinter entdecken! Ja, authentische Spiritualität leistet das tatsächlich. Sie lässt uns entdecken, was über unser persönliches, eingeschränktes Ich-Gefühl hinausgeht. Sie deckt den illusorischen Charakter unserer Selbstbilder auf und macht die Wirklichkeit des Absoluten erfahrbar. Doch diese Offenbarung verläuft nicht so glatt, wie wir uns das in unseren naiven Vorstellungen von Erleuchtung ausmalen.
Unser Wunschdenken macht sich schöne Bilder: Ein Peng, ein Blitz, eine Welle von Energie, und aus ist es mit dem geplagten Ich. Oder wenigstens identifizieren wir uns dann nicht mehr mit ihm. Nie wieder Schmerzen! Nie wieder Traurigkeit, Angst oder Wut! Keine störenden Gedanken mehr! Das sind die Hoffnungen. Schön, wenn es so einfach wäre. Die Wahrheit aber ist: Es ist so einfach, und es ist sehr viel komplizierter.
Die Weisheit der zwei Wahrheiten
Die Buddhisten sprechen von der »Weisheit der zwei Wahrheiten«. Damit sind zwei gleichwertige Perspektiven gemeint. Wie die zwei parallelen Gehsteige einer Straße laufen sie nebeneinanderher. Stehen wir auf dem »absoluten Gehsteig«, nehmen wir den unmittelbaren Aspekt unseres Erleuchtungswesens wahr. Hier ist tatsächlich schon alles vollkommen. Hier brauchen wir nichts zu tun, sondern sind schon; wir brauchen uns nicht anzustrengen, sondern ruhen in Mühelosigkeit. Auf dieser Seite gibt es kein Ich. Jenseits von Veränderung und Wandlung ruhen wir als zeitloses und regloses Bewusstsein. Diese Dimension eröffnet sich uns oft als spontaner, beeindruckender Durchbruch.
Auf der anderen Seite der Straße befindet sich der »relative Gehsteig«. Hier nehmen wir Zeit und Raum wahr. Hier bleiben wir – auch nachdem wir uns auf der anderen Seite schon als reines Bewusstsein erfahren haben – immer noch ein menschliches Wesen, das sich weiterentwickelt. Auf dieser Seite der Straße ist Vertiefung möglich und notwendig. Hier fordert das Sein von uns eine stetige Verfeinerung unserer Selbst-Erkenntnis, eine Erweiterung des Bewusstseins, eine weitere Auflösung ich-hafter Leidstrukturen. Es ist diese relative Seite der Straße, auf der Krisen und Krankheiten – auch spirituelle Krankheiten – auftauchen. Auch sie sind nützliche Wegstrecken auf unserem Pfad zu immer umfassenderer Freiheit.
Die Buddhisten empfehlen, unbedingt beide Perspektiven von Wahrheit – die relative und die absolute – einzubeziehen. Für eine der beiden Partei zu ergreifen, lässt uns auf einem Auge blind und unerleuchtet bleiben.
Die Prä-Trans-Verwechslung
Ken Wilber beschreibt in seinem integralen Modell, auf welche Weise bei der Entdeckung spiritueller Freiheit Komplikationen auftauchen können. Seinem Modell zufolge gibt es drei Hauptebenen: präpersonal, personal, transpersonal, bzw. prärational, rational und transrational. Diese können in ungefähr zwölf Einzelebenen unterteilt werden. Auf jeder dieser Ebenen sind Entwicklungsstörungen möglich, die zu Krisen führen oder sich als Krankheiten zeigen können. Die Störungen auf der prärationalen und der rationalen Ebene werden bereits von wissenschaftlich anerkannten Theorien beschrieben, vor allem die westliche Psychologie hat hier viel geleistet. Psychoanalyse, Verhaltenspsychologie, humanistische Psychologie und andere Ansätze bieten für diese Entwicklungsstufen Erklärungsmodelle und Therapien an. Hier möchte ich mich jedoch mit den transpersonalen Entwicklungsebenen und ihre Störungen beschäftigen, die in der akademischen Forschung und breiten öffentlichen Diskussion bisher noch kaum Beachtung finden.
Die erste wertvolle »Diagnose«, die sich einer integrale Betrachtung bietet, wird »Prä-Trans-Verwechslung« genannt. Diese Verwechslung ist weit verbreitet und durchzieht sowohl psychologische als auch spirituelle Sichtweisen. Er beruht darauf, dass die prärationale und die transrationale Ebene vordergründig etwas gemeinsam haben: Sie sind beide nicht-rational. Die erste deshalb, weil die Ratio im kindlichen Bewusstsein noch nicht – oder nur teilweise – ausgebildet ist. Die zweite, weil die Weiterentwicklung die Ratio überschreitet und hinter sich lässt. Diese Ähnlichkeit führt zu zwei Arten von Verwechslungen, nämlich die, dass transpersonale Einsichten zu prärationalen Krankheitssymptomen herabgewürdigt werden, und die, dass prärationale Wahrnehmungen zu transrationaler Weisheit überhöht werden.
Als Beispiel für die »Trans-Abwertung« nennt Ken Wilber Sigmund Freuds starre Haltung gegenüber spirituellen Erfahrungen. Freud deutete jede Art von Einheitserfahrung oder glückseliger Verzückung als Regression, das heißt, als ein Zeichen von Unreife. Für Freud waren spirituelle Erfahrungen nur infantile Wunschfantasien über die Rückkehr in die schützende Gebärmutter. Carl Gustav Jung hingegen unterlag gelegentlich dem Missverständnis der »Prä-Überhöhung« und interpretierte die archaischen und mythischen Symbole früher Kulturen, die eigentlich dem prärationalen Bereich zuzuordnen sind, als Ausdruck höchster transrationaler Erkenntnis.
Prä-Überhöhung und Trans-Abwertung
Ob Wilber Freud und Jung in dieser Hinsicht nun richtig eingeschätzt hat oder nicht: Die Prä-Trans-Verwechslung ist in der heutigen esoterischen Szene weit verbreitet und kaum zu übersehen. Besonders offensichtlich wird die Prä-Überhöhung bei den Auswüchsen der Wunscherfüllungs-Propaganda. Hier wird allen Ernstes und in immer neuen Variationen behauptet, spirituelle Entwicklung würde darin bestehen, dass wir uns unsere eigene Realität einfach – schwuppdiwupp – gemäß unseren persönlichen Wünschen gestalten könnten. Nach dem Motto »Was ich will, bekomme ich«, und »Was ich bekomme, macht mich glücklich«. Für Wilber gehören solche Ideen zu den magischen Fantasien der frühen, prärationalen Stufen der Menschheitsgeschichte, und in der Entwicklung von Kindern zu dem egozentrischen Verlangen bei Drei- bis Fünfjährigen.
Die Trans-Abwertung – oder zumindest die Ignoranz gegenüber den transpersonalen Ebenen – finden wir heute in unserem Gesundheitssystem. Die Wirkung von Meditation und transpersonalen Bewusstseinszuständen wird zwar inoffiziell von vielen Menschen, auch von Amtsträgern, hoch geschätzt, offiziell jedoch wird die Nutzung dieser Potenziale von den Institutionen unseres Gesundheitssystems überwiegend noch immer als Spinnerei abgetan.
Vom Personalen zum Transpersonalen
Eine weitere Art von Störungen gibt es beim Übergang von der personalen zur transpersonalen Ebene. Für die über diese Schwelle Schreitenden ergeben sich neue Freiheitsgrade, aber auch schmerzliche Herausforderungen. Bis zum Ende der personalen Ebenen basteln wir auf unserem Entwicklungsweg vor allem an unserem individuellen Glück. Wir versuchen, unsere Lebensumstände zu optimieren und feilen an unserem persönlichen Selbstbild. Wir sind mit unserer Person, deren Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfolgen identifiziert. Verläuft die Entwicklung gut, gelangen wir zu so etwas wie »persönlicher Selbstverwirklichung«. Vielleicht finden wir einen unseren Neigungen entsprechenden Beruf, leben in einer förderlichen Beziehung oder haben eine Familie gegründet. Nach eigenen Kräften haben wir unser Leben so gut wie möglich gestaltet. Und doch spüren wir irgendwann, das etwas fehlt. Irgendetwas ist noch immer unbefriedigt. Wir ahnen, dass die Entwicklung hier noch nicht zu Ende sein kann, irgendwie muss es noch weitergehen.
Manchmal entfaltet sich hier bereits eine umfassendere Betrachtung des Lebens. Das ist jedoch nicht immer angenehm. Wer über den Tellerrand seiner kleinen persönlichen Welt hinausblickt, kommt in Kontakt mit existentiellen Themen und spürt dann den schalen Geschmack des Ungenügenden, der allen Errungenschaften anhaftet. Auf einmal wird einem die Flüchtigkeit der persönlichen Erfolge und Beziehungen bewusst. Unsere Suche nach Glück und Erfüllung kann durch sie nicht befriedigt werden. Auch das kollektive Leiden der Menschheit, das sich in Krankheiten, Kriegen und der Ausbeutung der Umwelt zeigt, gibt schmerzlich zu denken. Hinzu kommt, dass unser Vertrauen in die Vernunft an dieser Stelle der Entwicklung allmählich brüchig wird. Die Ratio kommt an ihre Grenzen. Unser wissenschaftlich orientierter Geist erklärt uns viel, macht uns aber auch bewusst, wie wenig wir tatsächlich wissen. Die Vergänglichkeit aller Erscheinungen und die Nichtigkeit der menschlichen Existenz wird im Angesicht mikrokosmischer und makrokosmischer Dimensionen immer deutlicher, und uns wird klar, wie klein, hilflos und ohnmächtig unser Verstandeswissen demgegenüber ist.
Die existenzielle Depression
Auf der höchsten Ebene der rationalen Bewusstseinsentwicklung identifizieren wir uns mit einem sich unabhängig fühlenden und denkenden Ich, das sich zugleich von der Ganzheit allen Seins in höchstem Maße entfremdet und abgeschnitten hat.
Traditionelle sinnstiftende Perspektiven, wie sie uns Religionen der prärationalen Ebene anbieten, sind von uns mit berechtigter rationaler Kritik verworfen worden. In Philosophie und wissenschaftlichen Grenzgebieten ahnen wir schon den Hauch einer höheren transpersonalen Wahrheit. Die lebendige Erfahrung dieser Ebene bleibt uns jedoch noch verwehrt, denn wir halten immer noch fest an unseren alten vernünftigen und begründbaren Sichtweisen, und so befinden wir uns in einem Übergangsbereich, in dem wir uns mit existentieller Endlichkeit und Einsamkeit konfrontiert sehen.
Das alte Denken funktioniert nicht mehr. Es einfach loszulassen und uns ins Unbekannte neuer transrationaler Wahrnehmungswelten fallen zu lassen, scheint uns noch als zu gefährlich. Diese existentielle Depression ist mit einer Midlife-Crisis zu vergleichen, in der wir uns Fragen stellen wie diese: Wofür das alles? Was soll mir das Leben noch bringen? Oder wir grübeln: Ich weiß doch alles, habe so viel erreicht und bin trotzdem unglücklich.
Anders betrachtet, kann diese Depression auch als ein unterdrücktes transpersonales Selbstverwirklichungsbedürfnis verstanden werden: Wir negieren unser höheres transrationales Potenzial und leiden unter dieser Negation. Abraham Maslow, einer der Begründer der transpersonalen Psychologie, beschreibt dies so: »Ich warne dich; wenn du absichtlich weniger sein willst, als du zu werden fähig bist, dann wirst du für den Rest deines Lebens zutiefst unglücklich sein.« Solange wir an diesem Punkt nicht bereit sind, unsere Identifikation mit einer individuellen Person zugunsten der Zuwendung zum Transpersonalen zu lockern, werden der Lebensstillstand und die vermeintliche existentielle Sinnlosigkeit als schwere Last erlebt. Und hierin liegt bereits die Möglichkeit der Heilung: Wir sind gefordert, unser Festhalten an der »rein rationalen Person« hinzugeben und uns in Richtung auf das Transpersonale zu öffnen.
Astral-psychische Einbrüche
Nähern Menschen sich der transpersonalen Dimension, so geschieht dies oft über das Erleben von Erfahrungen, die Wilber »astral-psychisch« nennt (wobei »psychisch« hier aus dem englischen »psychic« abgeleitet ist, was am besten mit »hellsichtig/hellfühlig« übersetzt wird). Dabei handelt es sich um ein breites Spektrum von Erfahrungen, denen eins gemein ist: Durch ihr Erleben wird unser Glaube an die vermeintlich fest umrissenen Trennungen von Ich und Du, Individuum und Kollektiv, innen und außen, Zeiten und Orten in Frage gestellt. Die Aussage »Alles ist mit allem verbunden« ist schon fast zum Allgemeinplatz geworden. Doch durch astral-psychische Erfahrungen beginnen wir, ein direktes Gespür für dieses alles verknüpfende Gewebe des Lebens zu bekommen. Für manche Menschen zeigen sich solche Erfahrungen spektakulär. Andere spüren eine sanfte Öffnung. Von der rationalen Perspektive her wirkt die Bandbreite dieser Erfahrungen fremdartig. Dennoch werden sie von vielen Menschen als erste wertvolle Fingerzeige auf eine höhere Wirklichkeit erlebt: das Spüren von energetischen Phänomenen und Zentren im Körper oder an dessen Peripherie. Das Erleben von Heilungsvorgängen jenseits der schulmedizinischen Erklärungsmuster. Der Zugang zu intuitiven, erahnenden, übersinnlichen Wahrnehmungen, die bis hin zu hellseherischen Erscheinungen gehen können. Das Auftauchen anderer »paranormaler Phänomene« wie Synchronizitäten oder telepathischer Wahrnehmung. Der Kontakt zu Menschen und Wesenheiten auf unsichtbaren, feinstofflichen Ebenen.
Auf dieser ersten transpersonalen Ebene beschreibt Wilber zwei wesentliche Krankheitsphänomene. Zum einen können sich hier astral-psychische Einbrüche zeigen. Einbruch ist hier im Sinne eines plötzlichen, geradezu gewaltsamen Auftauchens solcher Phänomene gemeint. Meist kann sich der von solchen Einbrüchen Überfallene diese Phänomene nicht erklären, weil sie so ganz und gar nicht zu seiner bisherigen Weltsicht passen. Stell' dir vor, du sitzt auf einer Bank, auf einem Hügel in schöner Natur, und genießt die Aussicht. Dann schließt du die Augen. Plötzlich durchfährt dich ein innerer Energiestrahl, der im unteren Rücken zu beginnen scheint. Eine Kraft schießt die Wirbelsäule hoch, richtet diese auf und lässt deinen ganzen Körper in regelmäßigem Rhythmus leicht schwingen. Am Kopf dehnt sich der Energiestrahl in ein den ganzen Schädel ausfüllendes blaues Licht aus, das für ein paar Sekunden alle Gedanken auslöscht. Du siehst das Bild eines geliebten Menschen vor dir und hast das Gefühl, über Hunderte von Kilometern hinweg eine intensive Verbindung zu ihm zu haben.
Für einen erfahrenen Meditierer sind solche Phänomene nichts Ungewöhnliches. Doch einen Menschen, der bisher rein rational orientiert war, kann solch ein Einbruch zutiefst verunsichern. Er würde vielleicht denken, dass er verrückt wird und in Panik geraten. Es handelt sich jedoch um natürliche Phänomene der Bewusstseinserweiterung auf die astral-psychische Ebene.
Astral-psychische Inflation
Die andere spirituelle Krankheit dieser Ebene, die »astral-psychische Inflation«, stellt die Kehrseite dieser Abwehr dar. Sie besteht in der Neigung, sich von solchen Phänomenen übermäßig faszinieren zu lassen und sie als »neue höchste Wirklichkeit« anzuhimmeln. Das Klischee dazu ist die über und über mit Heiledelsteinen behängte Wahrsagerin. Mit halbgeschlossenen, verdrehten Augen pendelt sie aus, ob sie jetzt oder erst in fünf Minuten aufs Klo gehen sollte. Sie tut es dann jedoch nicht, weil ihr ein gerade gechannelter aufgestiegener Meister eingegeben hat, zunächst ihr vorletztes Leben als verfolgte Kräuterfrau in rosa Heilenergie zu tauchen.
Geben wir den astral-psychischen Wahrnehmungen zu viel Aufmerksamkeit oder identifizieren uns übermäßig mit ihnen, bleiben wir auf dieser Ebene stecken und verpassen weitere Entwicklungsmöglichkeiten. Die Lösung solch dysfunktionaler Fixierungen besteht gemäß dem Wilber-Modell darin, weder vor den hier auftretenden Phänomenen zurückzuschrecken, noch sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen und dann berauscht darin hängenzubleiben, sondern schlicht zur nächsthöheren Ebene voranzuschreiten.
Unbalancierte Entwicklung
Eine sehr wichtige Nebenbemerkung: Im Wilber-Modell sind die beschriebenen Entwicklungsebenen nicht als voneinander getrennte Stufen zu verstehen, sondern eher als eine schräge Ebene mit sanften Übergängen, auf denen alle möglichen Zwischenschritte denkbar sind. Hinzu kommt, dass jeder Mensch jederzeit Bewusstseinszustände höherer oder niederer Ebenen erleben kann. Bei diesen Zuständen handelt es sich sozusagen um »kleine Besuche« von einer höheren (oder auch niederen) Ebene, ohne dass jedoch unser Bewusstseinsschwerpunkt auf der jener Ebene verankert sein muss (meist ist er es nicht). Weiterhin enthält Wilbers Modell Entwicklungslinien. Sie machen plausibel, dass einige Anteile unserer Psyche schon weit entwickelt sein können, während andere kaum ausgebildet sind. So können wir beispielsweise vielleicht die Charakteristika einer bestimmten Ebene mental durchaus schon erfassen, haben aber beim emotionalen Erspüren dieser Ebene noch große Schwierigkeiten. Alle diese Faktoren machen Bewusstseinsentwicklung zu einem wesentlich variationsreicheren und flexibleren Phänomen, als es die eindimensionale Beschreibung der Wilberschen Ebenen zunächst erscheinen lässt. Dennoch ist es sinnvoll, die Ebenen zunächst als eigenständige Stufen zu beschreiben, um sich der Komplexität des Modells in einfachen Schritten zu nähern.
Das Glück des Einsseins
Die nächsthöhere Schicht im Wilber-Modell ist die »subtile Ebene«. Hier verblassen Trennungen noch mehr. Die Ahnung der Verbundenheit aller Erscheinungen weitet sich zu einem echten Erleben des Einsseins von allem aus. Stellen wir uns einen weißen, weit ausgebreiteten Nebel vor. Im Nebel zeichnen sich verschiedene Gestalten ab. Auch diese Figuren bestehen aus weißem Nebel. Wir können sie voneinander und vom nebligen Umfeld nur unterscheiden, weil ihre Körperhüllen aus etwas verdichteterem Nebel bestehen. Auf der rationalen/personalen Entwicklungsebene glauben wir, dass die verdichteten Nebelhüllen der Gestalten tatsächlich ein Innen von einem Außen trennen. Wir sind auch davon überzeugt, dass die Gestalten voneinander getrennte Wesen darstellen. Auf der astral-psychischen Ebene beginnen wir zu spüren, dass die Grenzen durchlässiger sind, als wir vermutet hatten. Wir spüren, wie Verbindungsfäden aus Nebel das gesamte Nebelfeld durchziehen und alles auf eine mysteriöse Art miteinander verbinden. Auf der subtilen Ebene lösen wir uns ganz von der Idee, ein abgetrenntes Nebelwesen zu sein. Unser Bewusstsein dehnt sich in die Schwaden des Nebels aus. Wir spüren, wie alles um uns herum aus demselben weißen Nebel besteht, auch die scheinbar festen Umgrenzungen. Das bringt eine transzendente Glückseligkeit mit sich, denn nun endlich fühlen wir uns befreit von den einengenden Trennungslinien. Wir spüren die alles durchdringende Verbundenheit des Seins. Wir schwelgen im Einssein mit allem. Ohne dass dafür ein ichhafter Bezugspunkt gebraucht wird, baden wir in Frieden und ekstatischer Dankbarkeit. Das verzückte Lächeln des Buddhas symbolisiert dieses Glück des Einsseins.
Manche Menschen erfahren diese Ebene in ihnen vertrauten kulturellen oder religiösen Bezügen. So wird das subtile Erleben vielleicht mit dem ewigen Christus-Bewusstsein, der alles durchdringenden Buddha-Natur, der Allgegenwart Allahs, dem namenlosen Tao oder anderen archetypischen Formen assoziiert. Im Advaita entspricht dies der Erfahrung des Ananda-Aspekts des Seins: die strahlende Glückseligkeit im Spüren der Allverbundenheit. Andere Menschen erleben diese Ebene, losgelöst von archetypischen religiös-spirituellen Bezügen, vielleicht als ein alles durchdringendes Licht, ein stilles Grundrauschen, ein kosmisches Vibrieren, formloses Energiefeld oder noch ganz anders.
Die Glückseligkeitssucht
Auch auf dieser Ebene gibt es dysfunktionale Anhaftungen. Typisch ist die »Glückseligkeitssucht«. Da sich die Offenbarungen auf dieser Ebene oft so wunderbar frei und wohltuend anfühlen, neigen Restanteile unseres Ichs dazu, an solchen Stimmungen als letzter Wirklichkeit festzuhalten: »Ich sollte das Einssein immer so spüren«, »Mein Herz sollte immer so offen sein«, »Wenn ich die göttliche Seligkeit nicht fühle, ist etwas falsch mit mir.« Dann versuchen wir manchmal, Ekstase und Verzückung auf eine angestrengte Weise festzuhalten oder wie in einer Retorte künstlich wiederherzustellen.
Hinzukommt ein besonders zu beachtendes Phänomen der spirituellen Entfaltung: Mit der Öffnung zur transpersonalen Ebene hin geschieht etwas, das Wilber die »Aufhebung der Verdrängungsschranke« nennt. Denn ein Teil der Energie unserer Ratio wurde auf der personalen Ebene dazu benutzt, um sogenannte Schattenanteile aus unserem Bewusstsein fernzuhalten. Dazu zählen Themen wie verdrängte Gefühle, unerwünschte Persönlichkeitsanteile, unverarbeitete Schicksalsschläge, traumatische Erlebnisse und anderes.
Das Aufsteigen der Schatten
Mit dem Zur-Ruhe-Kommen unseres zwanghaften, rationalen Denkens wird unser Geist stiller, weniger kontrollierend und verdrängt in Folge dessen auch weniger. Deshalb können die Schattenanteile des Unbewussten wieder in unser Bewusstsein aufsteigen. Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Diese Anteile können im Licht des Einsseins integriert und die damit verbundenen Leiden aufgelöst werden. Doch dafür braucht es die Bereitwilligkeit, dem Schmerz der dunklen Seiten offen und liebevoll zu begegnen. Halten wir aber – verlockt durch unsere Einblicke in den subtilen Bereich des Bewusstseins – daran fest, uns immer glückselig fühlen zu wollen, verpassen wir die Chance, unsere Schattenanteile zu erlösen. Ein heilsames Potential liegt hier in der umfassenden Integration der unteren Ebenen und ihrer bisher unerlösten Anteile. Dafür können Mischformen aus spiritueller Selbsterforschung und therapeutischen Hilfsmitteln sehr hilfreich sein.
Die Entdeckung des Raums
Die Entwicklung auf die wiederum nächsthöhere Ebene – die »kausale Ebene« – kann zu dieser Integration beitragen. Sie kann allerdings auch die weitere Verleugnung und Abspaltung auf eine andere Weise sogar noch verstärken.
Mit »kausal« bezeichnet Wilber das ursächliche – im Sinne von »ursprüngliche« Sein, aus dem alle Erscheinungen hervorgehen. In unserer Nebel-Metapher wäre das der gesamte Raum, in dem der Nebel auftaucht. Raum kann es auch ohne Nebel geben, aber Nebel nicht ohne Raum. Deshalb ist der Raum die grundlegendere (kausale) Wirklichkeit, in der alles erscheint und in die alles zurückkehrt, von der alles abhängig ist. Raum ist unberührt von dem, was in ihm auftaucht. Erscheinen Formen und Gestalten in ihm, wehrt er sich nicht dagegen. Werden sie aus ihm entfernt, kümmert ihn das genauso wenig. Diese Unbekümmertheit und Reglosigkeit gegenüber jeglichem Auftauchen und Vergehen sämtlicher Erscheinungen ist die Hauptentdeckung auf der kausalen Ebene.
Es ist schwierig, die Qualität der »inneren Erfahrung« auf dieser Ebene zu beschreiben. Denn es handelt sich dabei um die Entdeckung, selbst als reines formloses Bewusstsein anwesend und zugleich als ein Ich abwesend zu sein. Dieses Bewusstsein ist keine Erfahrung, sondern die tiefste Ebene unseres Seins, welches alle Erfahrungen erfährt und zugleich unangetastet von ihnen bleibt. Suchen wir Begriffe für dieses Namenlose, fallen uns Worte ein wie: Stille, Leere, Nichts, Abwesenheit, Formlosigkeit, Unberührtheit, Reglosigkeit. In der direkten Erfahrung wird es oft als vollkommene Entrückung von der Welt wahrgenommen. Der indische Weise Sri Ramana Maharshi spricht diese Ebene an, wenn er die ungewöhnliche Behauptung aufstellt: »Nichts ist jemals passiert.« Im direkten Erleben ist das weder Theorie noch eine Erfahrung, die ein Jemand macht. Vielmehr erlebt man sich hier selbst als das Eigenschaftslose, das Namenlose, als Nichts. Hier versagt eigentlich jede Beschreibung.
Zeugenbewusstsein und Leerheitswahn
Wilber bezeichnet dies auch als Entdeckung des »Zeugenbewusstseins«, das alle Erfahrungen »bezeugt« und zugleich von ihnen unangetastet bleibt. Und nochmal: Dieses Zeugenbewusstsein ist keine Person, keine Form, keine Einheit und hat keine Gestalt. Es ruht gänzlich leer von jeder Eigenschaft in sich selbst. Zugleich ist diese Leerheit keine nihilistische Langeweile, sondern ausgedehnte Freiheit. Es ist keine triste Einöde, sondern unendlich ruhende Weite. Wir erfahren uns hier als niemals geborenes und deshalb todloses, reines Gewahrsein.
Kann die Entdeckung dieser Ebene noch in eine Falle führen? Oh ja, das kann sie! In unterschiedlichen Traditionen wird die spirituelle Krankheit auf dieser Ebene verschieden benannt: »Arhat-Krankheit«, »Leerheitswahn« oder etwas unfeiner »Gestank der Erleuchtung«. Mein Lehrer Sri Poonjaji nannte sie schlicht: »Landen im Nichts«.
Natürlich ist die direkte Erfahrung des kausalen Urgrundes keineswegs eine Krankheit, sondern eine vollkommen heile, ja heilige Eröffnung tiefster Wahrheit. Erst das Bewusstsein der unantastbaren Leere ermöglicht, dass wir uns von allen vergänglichen Erscheinungen der unteren Ebenen heilsam dis-identifizieren und sie loslassen können. Selbst die »Glückseligkeitssucht« wird dadurch geheilt, dass wir erfahren, dass unsere tiefste Dimension nicht mal Gefühle von Seligkeit oder Einssein braucht, um in Frieden zu sein.
Doch sobald wir das »wahre Nichts« zu einem Konzept machen, sobald wir denken »Jetzt weiß ich, dass alles nichts ist«, machen wir das Nichts zu einem Etwas und missbrauchen diese tiefste Erkenntnis. Das geschieht oft sogar im Dienste weiterer Verdrängung unserer doch noch vorhandenen Schattenanteile. Lebendige Erkenntnis von Leere wird dann auf erstaunliche Weise verdreht: »Ich habe kein Ich mehr«, »Ich bin unberührt von allem«, »Niemand ist hier anwesend«, »Hier gibt es keine Person«. Solche Sätze können Ausdruck tiefer mystischer Wahrheit sein, doch meist sind es nur Symptome des »Leerheitswahns« eines »erleuchteten Ichs«, das Konzepte von Reglosigkeit als Abwehrmechanismus für noch wirkende Schattenaspekte seines Egos missbraucht.
Non-duales Bewusstsein
Was kann diese letzte spirituelle Krankheit heilen? Die Weitung in ein wahrhaft non-duales Bewusstsein – das im integralen Modell die höchste Ebene darstellt. Non-dual bedeutet »nicht zwei«. Hier hört wirklich jegliche Trennung auf. Die Trennung zwischen Ich und Du, gut und schlecht, Teil und Ganzem, Raum und Inhalt, und auch die zwischen Zeugen und Bezeugten, zwischen leerem Urgrund und Erscheinungswelt. Damit einher geht eine vollkommene Durchlässigkeit für alle Ebenen. Wir haften weder an der Glückseligkeit der subtilen Ebene, noch ziehen wir uns auf die Unberührbarkeit des Kausalkörpers zurück. Stattdessen erfahren wir uns als wahrhaft grenzenloses Bewusstsein, das alles – auch die noch verbleibenden Schattenanteile – liebevoll umarmen und loslassen kann. Wir erleben uns sowohl als Körper-Geist-Seele-Einheit auf den relativen Ebenen als auch als den absoluten Urgrund. Wir sind zugleich unberührt von jeglichem Leid und vollkommen berührbar für jede Art von Schmerz. Wir sind sowohl das Wesen der Leere jenseits der Existenz als auch diesseitige Freude und das existentielle Leiden aller Wesen. Wir wissen, dass wir nichts sind, und wir wissen, dass wir alles sind – und wir wissen, dass wir das alles nicht mal zu wissen brauchen.
Und das wirklich Gute ist: Auf dieser Ebene gibt es kein Anhaften, keine Ablehnung und somit keine Störung oder Krankheit, sondern nur noch allumfassendes Heilsein.
