Erleuchtet - ganz oder gar nicht?

erschienen in der Zeitschrift „Connection Spirit“ Ausgabe Mai/Juni 2013 (hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Wolf Schneider- hier geht es zur Website der Connection)


»Erleuchtung« aus der Perspektive des Integralen Modells und das Konzept der Entwicklungslinien

Können wir überhaupt darüber sprechen und schreiben, was Erleuchtung ist, oder müssen wir darüber schweigen? Sind solche Erfahrungen etwas von dieser Welt ganz Abgehobenes, oder haben sie konkrete Auswirkungen auf unser menschliches Dasein? Torsten Brügge meint: beides! Anhand des Integralen Modells und dessen Verständnis von Entwicklungslinien des menschlichen Bewusstseins beschreibt er, wie man Erleuchtung sowohl aus einer absoluten als auch aus einer relativen Perspektive betrachten kann. Erst wenn wir beide Sichtweisen kennen, erhalten wir ein wahrhaft ganzheitliches Bild, sonst bleiben wir auf einem Auge blind

von Torsten Brügge

»Hör mal, da kommt demnächst ein Typ in unsere Stadt, der soll erleuchtet sein!« So eine Bemerkung haben wir vielleicht schon mal gehört. Heutzutage werden immer mehr Menschen als erleuchtet bezeichnet oder betiteln sich auch selbst so. Doch was bedeutet das überhaupt? Und stimmt es wirklich, dass ein Mensch – nach dem Motto »Ganz oder gar nicht« – entweder vollständig erleuchtet oder aber total unerleuchtet ist? Ein solches Denken scheint mir eher Ausdruck unseres Wunsches zu sein, dass spirituelle Befreiung von einem Augenblick zum anderen geschieht und uns beschwerliche Übergangsphasen erspart. Vielleicht halten wir so auch an der Wunschfantasie fest, ein makelloser, »vollständig erleuchteter« Guru könnte uns quasi wie mit einem Zauberstab von allem Leid erlösen. Ein Mensch, der nur zu neunzig Prozent erleuchtet und noch zu zehn Prozent gewöhnlich wäre, dem würden wir das nicht zutrauen.

Absolute Eigenschaftslosigkeit

Der Begriff »erleuchtet« entzieht sich einer einfachen Definition. Auch die sogenannten Erleuchteten selbst dekonstruieren ihn gerne mit paradoxen Aussagen. Befragt man sie nach ihrer eigenen Erleuchtung, bekommt man Sätze zu hören wie: »Ein Ich, das erleuchtet sein könnte, gibt es nicht.« »Was ich bin, entzieht sich jeder Festlegung durch Eigenschaften.« »Ich bin das Sein jenseits aller Begrifflichkeiten.« Auch der Buddha sprach vor 2500 Jahren darüber schon in Rätseln. Er sagte: »Es gibt Erleuchtung, aber es gibt niemanden, der erleuchtet ist.«

Diese paradoxen Aussagen über Erleuchtung spiegeln Wahrheit wider, und zwar die direkte Erfahrung der absoluten Seinsebene. Auf ihr gibt es keine begrifflichen Festlegungen, keine Ich-Konzepte, keine Trennungen. Sie ist unangetastet von allen Bewertungen und menschlichen Vorstellungen über Erleuchtung. Diese Ebene wird in mystischer Innenschau unmittelbar erfahren, und diese »Erleuchtungs-Erfahrung« stellt ein wesentliches Element dar, Bodhichitta (Erleuchtungsgeist) zu erkunden. Wollten wir nur diese absolute Ebene betrachten, könnten wir nicht viel mehr über Erleuchtung sagen, als dass sie das unmittelbare Erleben unseres Wesenskerns als ungetrenntes, eigenschaftsloses Bewusstsein ist. Das wär's, basta.

Relative Erscheinung

Doch wie steht es mit dem Relativen? Auch Menschen, denen eine mystische Innenschau des Erleuchtungsgeistes zuteil wird, gehen damit meist nicht in reinem Licht auf. Sie bleiben eine Person mit körperlichen Befindlichkeiten, einem Gefühlsleben und mentalen Reflektionen. Sie kommunizieren mit anderen und sind in sozialen Rollen als Teil einer Gesellschaft eingebunden. Welche Bedeutung hat der Erleuchtungsbegriff hier? Welche Effekte hat die mystische Innenschau des Absuluten im weltlichen Bereich?

Der amerikanische Philosoph und Mystiker Ken Wilber liefert dazu in seinem »Integralen Modell des Bewusstseins« sehr umfassende Erklärungen. Das Modell erläutert, wie das zunächst unfassbare Phänomen »Erleuchtung« im Menschen auch ganz konkreten Ausdruck findet und sich auf alle Lebensbereiche auswirkt. Mit seinen Thesen bricht Wilber die naive – und zutiefst dualistische – Vorstellung von »erleuchtet versus unerleuchtet« auf. Er macht plausibel, dass ein Mensch auf der relativen Ebene bewusste, klare, erleuchtete Anteile erleben und verkörpern kann, während er in anderen Lebensbereichen unbewusst, unerleuchtet und nahezu blind durchs Leben stolpert. Das haben wir doch eigentlich schon immer geahnt, oder?

Erstes Erwachen und nachreifende Befreiung

In meiner eigenen Erfahrung zeigte sich das ähnlich: Anfang der 90er Jahre gab es in meinem Leben einen Wendepunkt, bei dem sich mir eine Erfahrung der absoluten Seinsebene eröffnete. Während eines Meditationsretreats hörte alles Suchen nach weltlichen und spirituellen Erfahrungen auf. Auch die Suche nach Erleuchtung kam zum Erliegen und – oh Wunder – so etwas wie »Erleuchtung« offenbarte sich: Mir wurde das stille Sein bewusst, das allen Erscheinungen des Lebens zugrunde liegt. Das ging mit einem Geschmack zeitloser Ewigkeit einher. Mir wurde bewusst, dass das Absolute war und immer sein würde, was es jetzt schon ist. Es ruht unangetastet von allen relativen Erscheinungen. Es bleibt unberührt davon, in welchem Zustand sich mein Körper, meine Seele oder mein Geist befinden. Im Nachhinein würde ich diesen Wendepunkt als ein »erstes Erwachen« bezeichnen.

Das bedeutete allerdings nicht, dass mein relatives Leben und Erleben als Mensch in der Welt schon den Charakter eines befreiten Lebens gehabt hätte. Manche Lebensbereiche zeigten sich immer noch verdunkelt durch Unklarheit, Unbewusstheit und die Anstrengungen eines wieder aufkeimenden, egozentrischen Ichs. Es brauchte viele Jahre der »Nachreifung«, bis die Klarheit und Ichlosigkeit der absoluten Ebene nach und nach auch alle relativen Lebensbereiche durchdrang und »bereinigte«. Die Erweiterung dieser Befreiung setzt sich auch heute noch in subtilerer Weise fort.

Während der ersten Jahre nach diesem Erlebnis verwirrte es mich manchmal, wie die absolute Erfahrung zeitloser Freiheit und der relative Prozess allmählicher Vertiefung von Befreiung quasi gleichzeitig nebeneinander bestehen konnten. Erst als ich das Modell von Wilber genauer kennenlernte, wurde mir klar, dass eine relative und eine absolute Betrachtung von Erleuchtung Sinn macht und sehr hilfreich ist.

Unterschiedlich weit

Wesentlich für Wilbers differenzierte Sichtweise von Erleuchtung sind seine Beschreibungen von Entwicklungslinien des menschlichen Bewusstseins. Hier gibt es Parallelen zur modernen Intelligenz-Forschung, die bei uns schon fast zum Allgemeinwissen zählt. Der Erziehungswissenschaftler Professor Howard Gardner stellte in den 80er Jahren die »Theorie der multiplen Intelligenzen« auf. Danach zeigt sich Intelligenz keineswegs, wie früher angenommen, nur eindimensional, sondern in verschiedenen Ausformungen, die jeweils unterschiedlich weit entwickelt sein können. Beispielsweise kann jemand eine hohe mathematische Intelligenz besitzen, verfügt aber über eine nur schwach ausgeprägte musikalische Intelligenz. Kurz: im Rechnen ein Genie, musikalisch ein Dummkopf.

Wilber erweiterte die multiplen Intelligenzen noch um andere menschliche Entwicklungspotentiale. Sein  Modell kommt auf circa zwanzig Entwicklungslinien, auf denen sich menschliches Bewusstsein entfaltet. Hier die wichtigsten davon:

  • Die kognitive Linie (Gewahrsein dessen, was bewusst wahrgenommen und reflektiert werden kann)
  • Die moralische Linie (Bewusstsein dessen, was als richtig/gut und falsch/schlecht gilt)
  • Die emotionale oder affektive Linie (das gesamte Spektrum der Emotionen)
  • Die interpersonelle Linie (die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen)
  • Die Linie der Bedürfnisse (wie Maslows Bedürfnispyramide)
  • Die Linie der Selbstidentität (mit was oder wem sich jemand identifiziert, z.B. Loevingers Ego-Entwicklung)
  • Die ästhetische Linie (Möglichkeiten des Selbstausdrucks, der Schönheit, Kunst)
  • Die psychosexuelle Linie (gesamtes Spektrum des Eros und der Sexualitätsreife einschließlich spiritueller Dimensionen)
  • Die kinästhethische Linie (körperliche Motorik und Fähigkeiten)
  • Die weltanschauliche Linie (Reife der Weltanschauung)

Der Entwicklungsstand

Alle diese Entwicklungslinien können unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Entwicklung schreitet dabei jedoch immer über drei Hauptebenen voran: von präpersonal über personal zu transpersonal. Die erste dieser drei ist eine kindliche Stufe, die noch vor (prä) der Ausbildung einer komplexen, individuell abgegrenzten und eigenverantwortlichen persönlichen Identität (person) besteht. Präpersonales Denken geschieht vor allem in Symbolen und magisch-mythischen Bilderwelten. Auf dieser Ebene spielt der Wunsch nach Sicherheit für unseren Körper (egozentrisch) und die Zugehörigkeit zu unserer Familie und identitätsstiftenden Gruppen (ethnozentrisch) eine große Rolle. Unsere moralischen Maßstäbe entstehen unreflektiert aus uns selbst und sind dabei beeinflusst von den überlieferten Wertsystemen unserer jeweiligen Subkultur.

Die nächsthöhere Ebene ist die personale. Auf ihr erleben wir uns als Individuum mit einem kritisch-rationalen Verstand, das sich aus althergebrachten Wert- und Rollensystemen lösen und seine eigenen Werte entwickeln möchte. Wenn wir uns umfassend in die Perspektiven anderer hineinversetzen können, vertiefen wir unser Mitgefühl und entwickeln Werthaltungen, die sich z. B. in den universellen Menschenrechten widerspiegeln.

Doch es gibt auch noch die transpersonalen Bereiche. Hier entdecken wir, dass wir mehr sind als unser Körper, unsere Person und unsere Vernunft. Wir transzendieren das dualistische Denken und finden Zugang zu einer stillen Intelligenz reinen Bewusstseins. Das abgegrenzte Selbstempfinden der personalen Ebene wird hier als illusionär durchschaut und erweitert sich. Wir bekommen wieder Kontakt zum absoluten Urgrund des Seins. Auf den höchsten transpersonalen Ebenen weitet sich unser Identitätsempfinden aus und wird zum Gefühl eines alles einschließenden Einsseins sowohl mit dem Urgrund als auch mit allen Erscheinungen, die aus ihm hervorgehen. (Es gibt auch noch neuere, komplexere Modelle von Wilber hierzu).

Integrales Flächen-Psychogramm

Die einzelnen Entwicklungslinien entfalten sich durch diese drei Hauptebenen hindurch. So bilden wir z. B. erst eine präpersonale, dann eine personale und schließlich eine transpersonale Moral heraus. Ebenso erweitern sich unsere kognitiven Fähigkeiten von präpersonalen über personale hin zu transpersonalen Arten der Wahrnehmung. Aus diesem Verständnis können wir ein »integrales Flächen-Psychogramm« ableiten, das den aktuellen Entwicklungsstand eines Menschen unter Berücksichtigung verschiedener Linien anhand einer einfachen Grafik zeigt. Natürlich sind solche »Psychogramme« immer mit Vorsicht zu genießen, weil sie zu Festschreibungen neigen, die die Dynamik anderer Aspekte des Menschseins auslassen und auch als Negativ-Abstempelungen missbraucht werden können. Zum Zweck der Selbsteinschätzung können sie aber durchaus nützlich sein.

Erleuchtung differenziert betrachtet

Anstatt zu behaupten, ein Mensch verkörpere absolute Erleuchtung oder absolute Unbewusstheit können wir mit Hilfe dieses Modells nun viel genauer unterscheiden. Es mag zum Beispiel sein, dass jemand im kognitiven Bereich sehr tiefe Einsichten entwickelt hat, die ihm helfen, sehr differenziert über Gott und Mystik zu reflektieren und zu sprechen. Zugleich können bei derselben Person die moralische, interpersonelle und psycho-sexuelle Entwicklungslinie noch unterentwickelt sein. Dieser Mensch ist dann vielleicht ein sprachlich gewandter Mystiker und spiritueller Lehrer, im zwischenmenschlichen Umgang aber ist er das, was wir ein Arschloch nennen: Er lügt, betrügt und missbraucht Menschen, die ihm vertrauen.

Oder jemand strahlt die allumfassende Liebe des Transpersonalen aus und ist damit ein wahrer Balsam für die Seelen anderer. Vielleicht erscheint er uns wegen dieser Ausstrahlung geradezu als Heiliger, ist aber nicht in der Lage, über spirituelle Wahrheiten zu reflektieren und sie in klaren Worte zu äußern. Man genießt seine Herzlichkeit, ist aber enttäuscht, wenn er den Mund aufmacht.

Oder wir haben einen genialen Künstler vor uns, dessen Werke offensichtlich göttlich inspiriert sind. Seine kreative Entwicklungslinie ist sehr stark ausgeprägt, doch auf der emotionalen Linie bleibt er ein neurotisch gestörter Teenager, der – mal himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt – von seinen Stimmungen umhergetrieben wird.
Die folgenden Grafiken zeigen vier solche »integralen Flächen-Pychogramme« als Beispiele. Die grüne Fläche zeigt den Entwicklungsstand in Bezug auf die jeweilige Entwicklungslinie. Je weiter sich die Fläche nach außen in den transpersonalen Bereich ausdehnt, desto weiter ist die entsprechende Linie entwickelt.

Ganz oder teils erleuchtet

Mein indischer Lehrer Sri Poonjaji kannte das integrale Modell nicht, doch er sprach oft von »halbgebackener Erleuchtung«. Damit meinte er, dass das Licht des Erleuchtungsgeistes wirklich alle Ebenen des relativen Lebens durchdringen und »garen« sollte. Deshalb sollten wir uns nicht zu früh – am besten niemals – für allumfassend erleuchtet halten, auch wenn wir es auf der absoluten Ebene schon immer waren und sind.

Auf der relativen Ebene entmystifiziert Wilbers Modell unser Bild einer allzu simplen Verklärung. Es macht Erleuchtung normaler, menschlicher, irdischer. Dem einen oder anderen wird das nicht gefallen, denn es enttäuscht unsere Hoffnung auf die sofortige und allumfassende Instant-Erleuchtung. Es mag auch manchen, der als »vollständig erleuchteter« Lehrer betitelt wird, in einem neuen und nicht mehr ganz so glanzvollen Licht erscheinen lassen.

Wilbers differenziertes Erleuchtungsverständnis kann es uns aber auch erleichtern, indem es uns den »Erleuchtungsdruck« einer allzu perfektionistischen Vorstellung von spiritueller Befreiung nimmt. Mit ihm lassen sich die »schon erleuchteten« Anteile von uns ausfindig machen und wertschätzen. Zugleich macht es uns deutlich, wo wir noch Entwicklungspotentiale haben.

Erleuchtungsstress

Manchmal setzt uns solch ein Modell jedoch auch unter Stress. Vor allem wenn wir glauben, wir würden erst dann echte Freiheit erfahren, wenn wir uns auf allen Ebenen zu den höchsten transpersonalen Höhen entwickelt haben. Wilber ist sich dieser Gefahr bewusst und verweist darauf, uns immer wieder auch den absoluten Aspekt von Erleuchtung zu vergegenwärtigen. Er schreibt: »Erleuchtung ist nicht erreichbar, weil sie schon immer gegenwärtig ist.« Diese Aussage ließe sich auch umdrehen: Erleuchtung ist immer schon gegenwärtig und braucht deshalb nicht erreicht zu werden. Und auch auf der relativen Ebene – so Wilber – müssen wir uns nicht damit quälen, in allen Bereichen höchste Meisterschaft zu erlangen. Es ist ganz natürlich, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat. Dennoch – so fordert es Wilber – sollte jeder zumindest ein »integral informiertes« Bewusstsein besitzen und dadurch über eine authentische Einschätzung der eigenen Entwicklungslinien verfügen. Das beugt spirituellem Größenwahn vor. Damit decken wir blinde Flecken in unserer Entwicklung auf und erkennen klar, wo wir noch Entwicklungsmöglichkeiten haben.

Setzt bei uns ein solcher »Erleuchtungsdruck« ein, so ist es heilsam, uns wieder dem absoluten, schon gegenwärtigen Aspekt von Erleuchtung zuzuwenden. Wir dürfen uns erlauben, alle relativen Einschätzungen, alle Ideen von Entwicklungslinien und Ebenen, jedes »Tiefer« und »Weiter« wieder zu vergessen. Wir lassen jegliches Nachdenken in die nicht wertende, reglose Stille fallen. Diese innere Stille durchdringt alle Konzepte und Modelle. Sie lässt jedes noch so ausgefeilte Denksystem wie ein wackliges Kartenhaus in sich zusammenstürzen und entlarvt es als nichtig. Was bleibt, ist die reine Bewusstheit des Absoluten. Hier sind wir schon längst und immer der Erleuchtungsgeist an sich: zeitlos, endlos, ichlos, eigenschaftslos. So gründen wir uns tiefer im Absoluten. Dann können wir auch wieder – aber nur wenn uns wirklich danach ist –  die relativen Bereiche betrachten und von Zeit zu Zeit eine kleine, ehrliche Selbstanalyse anstellen. Und wir dürfen es uns – bitte, bitte – gönnen, noch ein bisschen erleuchteter zu werden, als wir bisher zu sein glaubten.

Licht hereinlassen

Stell dir vor, du bist in einem dunklen Kirchenraum. Die Wänden sind durchbrochen von wunderschönen, bunte Mosaikfenstern, doch die meisten von ihnen sind verschmutzt. Sie lassen nur an wenigen Stellen Licht hindurch, deshalb ist es in der Kirche düster. Wir vermissen das Licht.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, zum Licht zu gelangen. Die erste ist, die zu Kirche verlassen. Draußen scheint uns die Sonne wunderbar hell entgegen. Das Tageslicht war schon immer da. Für dieses Licht ist es egal, ob die Facettenfenster der Kirche verschmutzt oder durchlässig sind. Das Tageslicht an sich ist schon immer »vollkommen erleuchtet«.

Die zweite Möglichkeit Licht zu bekommen ist, in der Kirche zu bleiben und damit zu beginnen, die Mosaikfenster zu säubern. Einige ihrer lichtdurchlässigen Facetten strahlen vielleicht schon hell, andere sind noch mit Schmutz bedeckt. Und obwohl das Tageslicht an sich bereits »vollkommen erleuchtet« ist, lassen die verschmutzten Facetten es nicht hindurch, sie sind »unerleuchtet«. Werden sie geputzt, scheint das Tageslicht von draußen durch das gefärbte Glas herein. Der Raum wird erhellt und strahlt in den schönsten Farben.

Mit beiden Erleuchtungsaugen sehen

Einen »umfassend Erleuchteten« können wir uns als ein Kirchenfenster vorstellen, dessen Fensterfacetten klar und durchlässig für das Licht von draußen sind. Aber es könnte auch teilerleuchtete oder nahezu unerleuchtete Fenster geben. Das Tageslicht außerhalb des Kirchenraumes stellt den absoluten, transzendenten Aspekt von Erleuchtungsgeist dar. Das sauber strahlende Fenster spiegelt wider, wie sich der relative Aspekt der Erleuchtung in der Welt manifestiert. Beide Aspekte gehören dazu, der absolute und der relative. Um den Begriff Erleuchtung umfassend zu verstehen, müssen wir beide Aspekte »beleuchten«, sonst bleiben wir auf einem Erleuchtungsauge blind.