
Natürliche Ethik
Leseprobe "Natürliche Ethik" aus Buchteil Fünf "Fragen und Antworten" aus dem Buch "Besser als Glück" von Torsten Brügge.
Nach Ihren Aussagen ist unser persönliches Ich pure Illusion. Doch wenn es unser Ich nicht gibt, wie steht es mit Verantwortung. Öffnet das nicht einem rücksichtslosen Egoismus Tür und Tor: Egal was ich tue, ich kann mich ja immer mit "Es gibt ja gar kein Ich" aus der Verantwortung ziehen?
Es ist möglich, dass wir spirituelle Wahrheit als Ausrede für offensichtlich egoistisches Handeln missbrauchen. Doch dabei handelt es sich schon nicht mehr um die direkte Erfahrung innerer Wahrheit, sondern um deren verzerrte Konzeptualisierung. Erfassen wir innerlich, dass es kein persönliches Ich gibt, machen wir zugleich die unmittelbare Erfahrung des alles verbindenden Einsseins. Daraus ergibt sich das was ich "natürliche Ethik" nenne.
Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh erläutert dies anhand einer Geschichte: Stellen wir uns vor, wir nehmen einen Nagel in die linke und einen Hammer in die rechte Hand. Wir wollen den Nagel einschlagen. Doch ein Missgeschick geschieht. Die rechte Hand zielt ungenau und trifft mit dem Hammer den Daumen der linken Hand. Das tut weh. Was geschieht weiter? Wird die linke Hand zur rechten sagen: "Du gemeiner Hund, warum hast du mir das angetan! Ich werde mich an dir rächen. Gib mir den Hammer. Ich werde dasselbe mit dir machen!"? Nein. Das würde keinen Sinn machen. Die Hände wissen und spüren, dass sie zum selben Organismus gehören. Sie sind Teil desselben Körpers. Sie arbeiten gut zusammen. Sie sind feinfühlig füreinander. Die rechte Hand wird mit einer streichelnden Geste die Linke trösten und den verletzen Daumen achtsam versorgen.
In diesem Beispiel könnte man sagen: Die linke und rechte Hand haben kein eigenständiges Ich. Sie werden von einer wesentlicheren, sie verbindenden Instanz gesteuert. Entdecken wir durch Selbsterforschung das absolute Sein, das uns alle verbindet, werden wir auf ganz natürliche Art und Weise Mitgefühl, Rücksichtnahme und Wohlwollen untereinander entwickeln. Da brauchen wir nicht mehr auf die bisher üblichen moralischen Richtlinien zurückgreifen, die oft mit unserem herkömmlichen Verständnis von "Verantwortung" verknüpft sind. Diese bestehen in langen überlieferten Listen. Sie schreiben uns vor, was richtig oder falsch, tugendhaft oder sündig ist; wie wir sittsam handeln sollten oder uns schuldig machen. Für einen erwachten Geist sind diese Listen nicht mehr notwendig. Er spürt von innen heraus, was ethisch verantwortlich ist und was nicht.
Eine hilfreiche Sichtweise auf den Begriff "Verantwortung" vermittelte mir auch meine amerikanische Lehrerin Gangaji. Im Englisch-Amerikanischen wird "Verantwortung" mit "responsability" übersetzt. Das setzt sich aus "response" (Antwort) und "ability" (Fähigkeit) zusammen. "Verantwortung" meint hier also "die Fähigkeit zu Antworten". Die Fähigkeit auf die Aufgaben des Lebens eine angemessene Antwort zu finden.
Dann können wir uns Fragen: Wann sind wir am besten in der Lage, auf die Herausforderungen des Lebens klar und gut zu antworten? Wenn wir uns mit Schuldgefühlen und moralischem Druck belasten? Wenn wir uns bemühen alles nach strengen Richtlinien, perfekt zu machen, weil wir sonst Bestrafung fürchten? Wenn wir Verantwortung als Last unseres persönlichen Ichs verstehen, mit der Gefahr uns schuldig zu machen?
Oder können wir Antworten, die das Leben von uns fordert, nicht viel leichter finden, wenn wir uns von der Idee, wir würden persönliche Schuld tragen, lossagen? Wenn wir uns befreit zurück entspannen in den Frieden der Ich-Losigkeit und des Nicht-Tuns?
Gerade in der deutschen Kultur gibt es eine große Angst, unser gewohntes, mit Schuld verknüpftes, Verständnis von Verantwortung loszulassen. Historisch ist das aufgrund der in Deutschland geschehenen Völkermorde durchaus verständlich. Vielleicht glauben wir, die Aussage, dass es kein Ich gibt, als Ausrede zu neuen Gräueltaten und Verursachung von Leiden zu missbrauchen. Doch die direkte Erfahrung jedes Menschen, der seiner eigenen Ichlosigkeit auf den Grund geht und darin ruht, ist eine andere: In der Regel wird dadurch das eigene Erleben und Verhalten sehr viel einfühlsamer, liebevoller und auch ethisch verantwortlicher als je zuvor.
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