Vorsätze ade – Vom Unsinn der Selbstverbesserung

Ein Gespräch von Dietmar Bittrich mit Torsten Brügge, Dezember 2006


Bittrich: Ist es sinnvoll, sich zu Silvester gute Vorsätze fürs Neue Jahr vorzunehmen?

Brügge: Nein. Wir haben ohnehin zuviele Vorsätze. Wir sind gewohnt, uns selbst als verbesserungsbedürftig einzustufen und an uns herumzudoktern. Wir wollen unsere Persönlichkeit soweit verbessern, dass wir irgendwann mit unserem Körper, Charakter und Verhalten glücklich sein können. Daher die Vorsätze: Sätze, die wir uns innerlich ständig vorsprechen. „Ich bin zu dick und müsste schlanker werden“, „Ich lasse mich zu oft gehen und sollte fleißiger arbeiten“, „Andere wissen besser Bescheid; ich sollte mehr lernen“. Das Traurige daran ist: Wir glauben unsere selbst-abwertenden Gedanken. Wir halten uns für mängelbehaftet. Und wir glauben, unsere Person vervollkommnen zu können, um schließlich zufrieden zu sein. Mit Vorsätzen reden wir uns ein, wir seien ungenügend - und bestärken damit unser Unglück.

Mittlerweile haben wir oft genug erfahren, dass Vorsätze scheitern. Ja, dass überhaupt der Versuch scheitert, durch Veränderung Zufriedenheit zu erreichen. Das hat einen einfachen Grund: Glück ist nicht durch unsere Persönlichkeit zu finden – wie bereinigt oder charismatisch sie auch sein mag. Glück wird erst offenbar, wenn wir uns nicht mehr mit unserer Person identifizieren. Erst dann finden wir Zugang zu einem inneren Frieden, in dem die Anstrengung, uns verändern zu müssen, endlich zur Ruhe kommt.

Bittrich: Vorher kommen die Vorsätze - wohin führen sie?

Brügge: Sie stammen aus den Konditionierungen, die wir in Familie, Gesellschaft und Religion erfahren haben. Es sind Glaubensmuster über Bedingungen und Eigenschaften, die wir noch zu brauchen meinen, damit wir zufrieden und glücklich sein können. Doch genau diese Vorstellungen verdecken die innere Erfüllung, die in allen Menschen zu jedem Zeitpunkt gegenwärtig ist. Wenn wir ihnen blind folgen, führen sie uns genau zum Gegenteil dessen, was sie uns versprechen: Sie bestärken das Gefühl, dass mit uns etwas nicht stimmt, dass wir minderwertige Wesen sind, die man durch strenge Ansprüche und überhöhte Zielsetzungen verbessern müsste. Schließlich werden genau diese Erwartungen auch wieder enttäuscht und wir leiden noch mehr.

Bittrich: Was bedeutet es, einen Vorsatz, ein Ziel zu verwirklichen?

Brügge: Wenn wir es einmal schaffen, einen Vorsatz zu verwirklichen, fühlt sich das natürlich gut an. Das liegt daran, dass für ein paar Momente unser harsches Anspruchsdenken zur Ruhe kommt. Wir können uns endlich davon entspannen, unsere Person zu Veränderung und Verbesserung hin trimmen zu müssen. Ja, man könnte sogar sagen: Für einen Moment vergessen wir uns selbst – zumindest unsere Vorstellungen davon, ein Jemand zu sein, dem etwas mangelt. Meist hält diese innere Zufriedenheit allerdings nicht lange an, denn wir verknüpfen sie ja irrtümlich mit dem erreichten Ziel, dem eingehaltenen Vorsatz. Wir übersehen, dass die Zufriedenheit dieses Momentes ein Durchscheinen unseres wahren Seins als natürlicher innerer Frieden ist. Und so glauben wir, uns das nächste Ziel, den nächsten Vorsatz vornehmen zu müssen. Das alte Selbstverbesserungsprogramm wird weitergestrickt.

Bittrich: Was geschieht, wenn ein guter Vorsatz gebrochen wir?

Brügge: Es tut weh, dass es nicht in unserer Macht steht, unsere Person und unsere Lebensumstände nach unserem eigenen Willen hinbiegen zu können. Doch genau dieser Schmerz kann befreiend wirken. Lassen wir die pure Enttäuschung einfach brennen, schmelzen die anstrengenden Idealbilder dahin - genauso wie unser mangelhaftes Selbstbild. Unser Selbstverbesserungsdenken kommt zur Ruhe. Es eröffnet sich ein innerer Frieden, der nicht davon abhängig ist, ob unsere Person unseren Idealvorstellungen oder den Normen der Gesellschaft entspricht. Wir entdecken ursachenlose Erfüllung als unser wahres Sein, jenseits persönlicher Erfolge oder Misserfolge.

Bittrich: Woher kommt die Macht der Gewohnheit?

Durch die ständige Wiederholung von inneren Glaubensmustern bildet sich eine Art eingetretener Pfad in unserem Denken und Verhalten. Die Konditionierungen, die uns durch unsere Eltern und die Gesellschaft eingeprägt wurden, halten wir zunächst für die einzig möglichen Sichtweisen. „Du musst Dir Ziele im Leben setzen“, „Folge deinen Träumen“, „Ohne Partner fühlst Du dich einsam“, „Streng dich an, damit etwas aus dir wird!“ Zunächst haben wir solche Sätze von Anderen gehört und dann in unserem eigenen Denken nachgesprochen, wir haben sie verinnerlicht und daraus unsere Vorsätze aufgebaut.

Weil wir glauben, Ziele erreichen zu müssen, geraten wir unter Leistungsdruck. Wir spüren kaum mehr, wann wir natürlicherweise erschöpft sind. Wir neigen dazu, uns auszulaugen. Wir dämpfen unsere Unzufriedenheit und Angst mit Fernsehen, Alkohol oder anderen Süchten. Auch dieses Verhalten, täglich wiederholt, gräbt sich in unser Bewusstsein und gewinnt Macht.

Bittrich: Als der Buddha sich unter den Baum setzte, war das ein guter Vorsatz? Und hatte er Erfolg?

Brügge: Der Buddha hatte in seinem Leben viele Vorsätze gehabt und eine Menge davon verwirklicht. Er war Meister in verschiedenen Disziplinen spiritueller Askese. Er beherrschte seine körperlichen Bedürfnisse mit fast übermenschlichen Kräften. Er überflügelte seine Meditationslehrer in der Kunst der Konzentration. Dennoch war er noch nicht befriedigt - im wahren Sinn des Wortes: Er hatte noch keinen Frieden gefunden. Immer noch war sein Geist der Vorstellung verhaftet, er könne sich verbessern und müsse etwas erreichen.

Am Bodhi-Baum kam dieser Weg zu einem Ende. Niemand kann sagen, was wirklich in ihm vorging. Meine Interpretation lautet: Er war so frustriert von der Tatsache, durch eigenes Bemühen und harte Übung einfach keinen Frieden erlangen zu können, dass sich in ihm eine rückhaltlose Entschiedenheit heranbildete. Er sah die Vergeblichkeit dessen, seinen Geist auf das Erreichen von Zielen – seien sie weltlich oder spirituell - in Vergangenheit oder Zukunft auszurichten. Er hatte genug von der Suche – selbst von der Jagd nach seiner Vorstellung von Erleuchtung. Anders ausgedrückt: Er fasste den Vorsatz, sich von keinem Vorsatz mehr in die Irre führen zu lassen. Doch dieser höchste Vorsatz – der Wunsch nach Freiheit - bezieht sich nicht auf eine eingebildete Zukunft, sondern auf den gegenwärtigen Moment, auf die Entsagung jeder Jagd nach Verbesserung. Dann kamen die bedrohlichen Gefühle und Gedanken („die Dämonen“), die ihn von dieser Entschiedenheit abbringen wollten. Er folgte ihnen nicht, sondern blieb regungslos. Zustände der Ekstase und des Wohlgefühls erschienen („Engel und Götter“) und wollten ihn verlocken, sich an wonnevollen und glückseligen Erfahrungen festzuhalten. Wieder verweigerte er die Gefolgschaft. Auf diese Weise erlebte er ein tiefgründiges Innehalten: das Sterben aller Wünsche und Hoffnungen. Es offenbarte sich schließlich das, wonach er sich gesehnt hatte: vollkommener innerer Frieden.

Bittrich: Können wir für unser Leben heute etwas daraus lernen?

Brügge: Natürlich! Das Beispiel Buddhas macht deutlich, dass Freiheit lebendige Erfahrung werden kann. Sie wird offenbar, wenn wir die Bedingtheit und Vergeblichkeit aller Wünsche und Vorsätze erkennen. Mit relativen Wünschen und Zielen ist nichts verkehrt. Doch zu glauben, ihre Verwirklichung würde uns dem inneren Frieden näher bringen, ist ein Trugschluss. Erfüllung macht bereits jetzt unser wahres Wesen aus. Sie bleibt verschleiert, solange wir die falschen Versprechungen unserer Wunschvorstellungen nicht durchschauen. Sehen wir genau hin, wird uns die gleiche Offenbarung zuteil wie dem Buddha: Wir entdecken das Ende des Leidens und die Gegenwärtigkeit wahren Friedens.